3. Dezember 2024 Reinhard-Schulz-Preis

Neue Musik und Journalismus

Die Berichterstattung über zeitgenössische Musik hat in den letzten Jahren sowohl in den Print- wie in den Funkmedien einiges an Boden verloren. Zugleich zeigte sich eine Abnahme der kritischen Qualität. Beides ging, so darf behauptet werden, Hand in Hand. Oder genauer: Die Absenkung des kritischen Niveaus ist Resultat des geringeren Spielraums, der geringeren Entfaltungsmöglichkeiten, die einer Debatte um Neue Musik zugestanden wurden. Insgesamt hat der Musikkritiker seine Dominanz in den Feuilletons, die er 200 Jahre innehatte, mit der Jahrtausendwende abgegeben. Andere ästhetische Fragestellungen, nicht zuletzt die Ästhetisierung von politischen und gesellschaftlichen Belangen, ließen das musikkritische Wirken immer mehr in konservativem Lichte erscheinen. Musikkritik, so hört man immer wieder, ist „out“.Das hat sowohl interne wie externe Gründe. Sie sollen zunächst im Hinblick auf die Printmedien, also in Bezug auf Tageszeitungen und Fachjournale in Umrissen benannt werden.

I: Verlagerung auf den Interpreten

Parallel zum öffentlichen Musikleben verlagerte sich auch die Musikkritik im 20. Jahrhundert weg von der Werkkritik und hin auf die Kritik von Interpretationen. War es im 19. Jahrhundert noch selbstverständlich, dass in den meisten Konzerten ein neues Stück gespielt wurde (das waren nicht zwangsläufig Uraufführungen, Interpreten, insbesondere Instrumentalvirtuosen bereisten die musikalischen Zentren, wo sie ihre neuen Kompositionen – oder die von anderen Komponisten – mehrfach vorstellten). Zwar war der Kult um den Interpreten auch zu dieser Zeit stark ausgeprägt, er wurde aber nicht zuletzt getragen von den neuen Stücken, die man von ihm erwartete. In der Kritik standen diese neuen Stücke naturgemäß an vorderster Stelle, kompositorische Eigenarten wurden befragt und debattiert, die Kritik ging mit einer Werksanalyse einher. Diese Verhältnisse wurden im 20. Jahrhundert, und nicht zuletzt auch durch Verbreitung der Musik über das Medium Schallplatte oder Funk, radikal gekippt. Plötzlich existierte Beethovens Eroica Duzende Male, der Musikkritiker behandelte das Werk als nur nach wenig debattierbare Basisschablone, auf der sich die Besonderheiten und Eigenarten des jeweiligen Interpreten eingruben. Selbstverständlich wurden neue Kompositionen weiterhin noch nachdrücklich diskutiert, aber die bürgerliche Öffentlichkeit begann solche Arbeiten mehr und mehr als Störfaktor zu betrachten, was letztlich zu den Enklaven der zeitgenössischen Musik führte: Zu verweisen wäre auf Arnold Schönbergs „Verein für musikalische Privataufführungen“, wo Kritik ausdrücklich unerwünscht und nicht geduldet war (!), aber auch auf die nun entstehenden Festivals Neuer Musik, wo Donaueschingen ab den 20er Jahren eine Vorreiterrolle spielten. Hier – auch viele Sinfonieorchester boten eigens ausgewiesene „Neue Konzerte“, wo vornehmlich Zeitgenössisches gespielt wurde – war ein festes Refugium für Werkdebatte und -kritik, aber es war eben ein Phänomen des gesamten Musikbetriebs. Im öffentlichen Bewusstsein war es häufig schon zum Randphänomen verkommen. Nicht die breite Gesellschaft verlangte das Neue, sondern die zeitgenössischen Komponisten suchten Terrains der Darbietung. Mit der Neuen Musik geriet auch die Werkkritik ins Ghetto.

Diese Tendenzen verstärkten sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Und mit dem Regietheater verlagerte sich im Bereich der Oper die Musikkritik noch einmal. Der Musikkritiker wurde hier im Wesentlichen zu einem Beurteiler von Sachverhalten, die der Musik eher peripher sind. Die Schilderung und Bewertung der inszenatorischen Deutung nimmt heute in der Opernkritik die vorderste Stelle ein. Nicht selten werden in erster Linie das Textbuch, also der Vorwurf der Charaktere etc., verglichen mit der jeweiligen Sicht des Regisseurs. Die Beurteilung der musikalischen Leistung wirkt in solchen Kritiken oft wie ein verschämter Nachschlag, der klammheimlich angehängt wird um anzudeuten, was eigentlich Hauptsache ist (und wofür sich der Musikkritiker auch seine wertenden Fähigkeiten erwarb). Dieser Zustand höhlte letztlich die Stellung und Funktion des Musikkritikers aus.

II: Verlust von Wertehierarchien

Schöpferisches musikalisches Arbeiten und Kritik bewegten sich im 19. und lange Zeit im 20. Jahrhundert auch kommunizierenden Ebenen. Es gab konsistente Wertvorstellungen und der Kritiker prüfte am Kunstwerk deren Einhaltung bzw. deren stimmiges Durchbrechen. Das hieß freilich keineswegs, dass die Kritik stets Schritt hielt mit den kompositorischen Neuerungen. Was Carl Maria von Weber über Beethovens Sinfonien schrieb zeugt ebenso vom Unverständnis des Kritikers gegenüber dem Werk, wie das, was Hanslick über die Werke Bruckners zu verfassen müssen glaubte. Im 20. Jahrhundert ging die Schere naturgemäß (und parallel zu politischen Verschiebungen) noch weiter auseinander. Aber stets noch wurde über die Printmedien die Debatte, die die Komponisten vor allem auf dem Wege ihrer schöpferischen Produkte führten, kritisch verlängert. Man stritt über die neuen Produkte und im Streit, der, bewusst oder unbewusst, durchaus konstruktive Züge trug, wurden Positionen geklärt. Die Reibung blieb und ihre Wärme belebte die allgemeine Debatte. Diesem Austausch war zumindest in Deutschland mit der Begriffbildung der „entarteten Musik“ ein Ende gesetzt. Aber nicht nur hier. Das Schlagwort „Formalismus“ in der sowjetischen Einflusszone hatte nicht minder reglementierende und die kritische Auseinandersetzung beschneidende Züge und auch der „freie Markt“ mit seinem Vorbildsland USA begann auf ökonomischem Weg durchaus vergleichbare Abwertungen des neuen künstlerisch-musikalischen Tuns loszutreten.

Nach dem Krieg begann sich dann vor allem in Europa, wo man mit der Absicht antrat, von Grund auf die alten Fehler zu vermeiden, neben den radikalen Neuerungen der zeitgenössischen Musik auch wieder ein streitbarer und niveauvoller Journalismus zu etablieren. Einziges, aber im Lauf der Jahre immer schwerer wiegendes Manko war, dass man übersah, wie sehr sich die sachgenaue, kenntnisreiche und diskursive Debatte vom allgemeinen Bewusstsein abhob. Dieses Übersehen wog zunächst nicht schwer, denn die Instanzen, vor allem der Rundfunk, standen fest zum innovatorischen Tun und schufen ihm unberührbaren Freiraum. Es war ein glücklicher, zugleich aber aseptischer Zustand, in dem sich Kunst und Kritik tummelten. Dagegen wehrte sich schließlich das künstlerische Tun. Schon das Wirken von John Cage beließ im Grunde die wertenden Instanzen nicht in ihren alten (und wieder neu etablierten) Rechten. Verwerfungen zeichneten sich ab, die dann mit den Resultaten der musikalischen Postmoderne (ein in sich diffundierender Begriff) aber auch mit dem extremen Fortdenken der Avantgarde hin zur Konzeptkunst, Noice-Art, Installationen und vielem anderen nicht mehr einem kritischen Werteraster anpassbar waren. Welche Stellung sollte ein Kritiker zu neomodalen Produkten eines Arvo Pärt, zu einem neoromantischen Trauergestus von Penderecki einnehmen, der tags zuvor noch das farbig-weiße Rauschen eines Peter Ablinger oder eine Raumklanginstallation von Alvin Lucier zu bewerten hatte. Mit dem Schlagwort „Anything goes“, der Postmoderne zugeordnet, aber im Grunde überall zu vermerken, ist dem Kritiker ein Stück seines diskursiven Hebels genommen. Noch hat er es nicht geschafft, diese wertefreie Zone (die keine ist) neu zu sichten und eine eigene Position dazu zu etablieren. Die Kritik droht zur Beschreibung zu verkümmern, zur Schilderung des Ambientes, worin sich das eigentlich zu bewertende musikalische Produkt wie ein Fremdkörper ausnimmt.

III: Schrumpfung der Sachkompetenz

Hand in Hand damit zeichnet sich mit dem Generationenwechsel in der Musikkritik eine Minderung der kritischen Qualität ab. Der Musikkritiker, der die Neuerungen nach dem Zweiten Weltkrieg diskursiv zu begleiten wusste, stirbt aus oder er wirft von selbst das Handtuch angesichts der neuen künstlerischen Produkte, die sich seinen Kriterien mehr und mehr sperren. Eine neue Generation von Kritikern übernimmt seine Funktion, ändert aber die Warte. Da, wo es um die Schilderung des Ambiente geht, um die Beurteilung des Event-Charakters eines neuen musikalisch künstlerischen Produkts, bedarf es immer weniger der kritischen kompositorischen Einschätzung. Der gut geschriebene (im besten Fall!) Text über das Surrounding, über den Effektgehalt des Gebotenen ersetzt die eingehende Auseinandersetzung mit dem Wollen des Komponisten, mit der Art der schöpferischen Umsetzung. Nicht selten wird diese Funktion von journalistisch ausgebildeten, musikalischen aber sich im Status des informierten Laien befindenden Allround-Kritikern übernommen. Er geht heute in eine Dichterlesung, morgen in eine Vernissage und tags darauf eben in ein Konzert mit Neuer Musik oder zur Uraufführung einer Oper. Nun sollte nicht beckmesserhaft der Standesdünkel des Experten beschworen werden. Fakt aber ist, dass der Austausch des schöpferischen Musikers mit einer regulierenden Kritik (die seinem Denken Anregungen und Anstöße gibt) mehr und mehr schwindet. Und auch die öffentliche Debatte verbleibt auf diese Weise im Ungefähren: Wobei freilich nicht verschwiegen werden sollte, das die Fachkritiken nach 1950 oft von einer elitären Gesinnung des Insider-Jargons getragen worden sind, die solche Öffentlichkeit von vorneherein ausgrenzten. Musikkritik führt auf dieser Basis heute eher ein Randdasein (man suche nur in den Feuilletons und ziehe Opernkritiken, die in erster Linie Regiekritik sind, ab), sie wird in erster Linie aufgrund der mächtigen Tradition am Rande geduldet.     

IV. Das Dilemma der Quote

Dieser Punkt betrifft besonders die Kritik in den Funkmedien, greift aber mehr und mehr auch in die Printmedien ein. Die meisten Kulturredaktionen können in den verantwortlichen Instanzen mit zeitgenössischer Musik außerhalb der Pop- oder allenfalls Jazzkultur nur wenig anfangen. Immer wieder stößt man auf die Frage, ob denn von Abnehmerseite genügend Interesse vorhanden sei. Skepsis herrscht, und der Druck von Abnehmerzahlen oder Einschaltquoten tut ein Übriges. Relevante Kritik wird dadurch immer mehr ins Abseits geschoben. So ist man als Journalist wie als Leser auf Fachjournale verwiesen, deren Wirkungsbereich natürlich beschränkt ist. Hier beißt sich die Katze in den Schwanz. Denn die Fachjournale bestätigen ungewollt die Isolierung und treiben zugleich den Insider-Jargon noch weiter voran – im Idealfall nämlich wären sie Ergänzung und Vertiefung der öffentlichen Meinung.

V. Die eigene Schuld

Die ganze Entwicklung ist auch von Innen heraus verschuldet. In den 50er bis zu den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts hatte sich die Musikkritik parallel zu den ästhetischen Denkansätzen der avantgardistischen Musik eines Vokabulars befleißigt, das im Wesentlichen den Gleichgesinnten anzusprechen suchte. Von der Richtigkeit des Weges, auch wenn man sich den Elitarismus eingestand, war man unbedingt überzeugt. Die Auseinandersetzungen wurden in engem Zirkel geführt. Musik wurde strukturell debattiert, weit weniger nach ihren gesellschaftlichen Standort oder Stellenwert. Die postmoderne Ratlosigkeit ab den 80er Jahren aber brachte Strukturargumente immer mehr zum verstummen. Es blieb auf Seiten der Kritik ein Vakuum, das zum Verstummen führte. Man hatte sich über die Jahre ein kritisches Rüstzeug erworben, aber diese Waffen waren angesichts der neuen ästhetischen Produkte stumpf geworden. Wenn die Komponisten mit Neoromantizismen, repetitiven Mechanismen oder reduziert kontemplativen Gebilden auf die Orientierungslosigkeit reagierten, dann hatte die vom Avantgardismus geprägte Kritik nur den Vorwurf der strukturellen Verarmung. Der traf zwar partiell durchaus zu, aber der bloße Vorwurf der Verarmung ist im Grunde auch ein Armutszeugnis fürs eigene Tun. Es ist der Kritik nicht gelungen, die neue Situation zu analysieren und die künstlerischen Ansätze auf diese hin zu prüfen; darauf war sie im hermetischen Umfeld des musikalischen Fortschrittsdenkens nicht ausgebildet worden. Ein Prozess des Um-Hörens fand nicht oder allenfalls viel zu zäh statt. „Happy New Ears“ hatte Cage einmal allen Hörern gewünscht. Der Satz wurde häufig zitiert aber weit seltener verinnerlicht. Ein Musikkritiker kann aber sein Leben lang nicht nur mit einem unveränderlichen Paar Ohren herumlaufen. Manchmal sind sie neu zu justieren, manchmal sogar ganz auszuwechseln. Denn die musikalische Entwicklung bleibt nicht stehen, selbst dann nicht, wenn ihre Protagonisten nicht wissen, wohin ihr Weg oder gar der Weg geht.

So wurde bislang eine Chance vertan: die Chance, musikalische Debatte aus dem Kreis eines erweiterten Fachgremiums wieder in gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung einzunisten. Diese Chance nämlich war es, die sich aus den Unlustbezeugungen der 80er Jahre auftat. Musikkritik hat sich ins Abseits schieben lassen. Doch das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Die zeitgeistig strukturierten Feuilletons, die auf die Basis des Entertainments setzen, zeigen schon heute Abnutzungserscheinungen. Das Bedürfnis zu tieferer Auseinandersetzung wächst. Und da wäre die Möglichkeit, Musikkritik in neuer Gestalt, mit neuen Ohren aber mit altem Enthusiasmus wieder zu revitalisieren.  

Erschienen in: Peter Overbeck (Hg.): Musikjournalismus, UVK-Verlag, Konstanz 2005, ISBN 978-3-89669-422-5 (Praktischer Journalismus, Band 59)