16. April 2024 Reinhard-Schulz-Preis

Stefan Fricke: Laudatio auf Leonie Reineke

Laudatio auf Leonie Reineke – anlässlich der Vergabe des Reinhard-Schulz-Preises 2018 im Rahmen der Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt am 22. Juli 2018

Guten Morgen meine Damen und Herren, liebe Leonie,

«die Musik» – das wissen und spüren wir, bedauern oder begrüßen wir – «wirkt nur gegenwärtig und unmittelbar». Klingende Musik, ob alt oder neu, ob altbacken oder taufrisch, lässt sich – auch das wissen wir zu genüge – weder festhalten noch besitzen. Vielleicht kamen deshalb unsere mitteleuropäischen Vorfahren irgendwann auf die Idee – die Notenschrift war schon erfunden und erlaubte den Lesen-Singen-Könnenden Ideentransport zur gewünschten Tonerzeugung -, dass der Klang auch mittels Wörtern und Worten einen Nachhall haben soll. Allerdings einen stummen Nachhall.

Stefan Fricke. Laudator. Foto: Martin Hufner
Stefan Fricke. Laudator. Foto: Martin Hufner

Denn nun sind es Wörter – so normale wie ich sie jetzt gebrauche -, die jedoch geschrieben und nicht gesprochen, die die Musik und das Musikerlebnis festzuhalten, zu verbreiten und zu beurteilen suchen. Vielleicht sind es aber auch die notierten Worte, die allein dem Dichter eigen sind, mit denen die ephemere Sache Musik eine dauerhafte verbale Setzung erhält.

Der Eingangssatz, womöglich haben Sie es eh bemerkt, waren solche Worte: die Worte eines Dichters. «Die Musik wirkt nur gegenwärtig und unmittelbar» – das schrieb Goethe am 28. September 1821 an Carl Friedrich Zelter. Sechzehn Jahre zuvor (am 19. Juni 1805) – der Weimarer Dichter und sein Berliner Komponistenfreund pflegten bekanntlich einen regen Austausch über Musikalisches – schrieb Goethe ihm: «Ich kenne Musik mehr durch Nachdenken als durch Genuss und also nur im Allgemeinen.»

Genuss gleich Hören von Musik, Nachdenken gleich Schreiben über Musik. Schreiben über Musik ist das Allgemeine, Hören von Musik ist das Besondere. Das Allgemeine bleibt für die Ewigkeit; das Besondere «wirkt nur gegenwärtig und unmittelbar». Wer am Besonderen nicht teilnehmen konnte, wer Gegenwart und Unmittelbarkeit verpasst hat, muss indes auf die nächste Besonderheit warten oder sich – wenn es denn geschehen ist – mit dem Allgemeinen versorgen: sprich einen Bericht über das Besondere lesen – die Lektüre der Noten ginge natürlich auch und ist zu empfehlen, aber sie sind nicht jedem zugänglich und verständlich.

Zudem – aber das ist eine uralte und längst noch nicht gelöste Diskussion – sind die Noten vielfach nur ein Weg hin zur Musik und noch nicht die Musik selbst. Mittlerweile lässt sich oft das verpasst Besondere auch – mithin gar in Echtzeit – durch die Digital-Sozial-Gefässe zu sich nehmen; auch wenn das nur eine virtuelle und keine veritable Teilhabe ist. Das tatsächliche Erleben des tatsächlich Besonderen verspricht und erlaubt auch den tatsächlichen Genuss, auch wenn dieser nicht immer ein Naschwerk ist.

Wer, meine Damen und Herren, wüsste das nicht besser zu benennen, als die in Essen und Berlin lebende Musikwissenschaftlerin und Musikjournalistin Leonie Reineke, die so viele Besonderheiten aufsucht wie nur wenige andere Kolleginnen und Kollegen? Und sie besucht nicht allein Konzerte mit neuer Musik im Sinne Paul Bekkers, sondern eben auch etliche Konzerte mit neuer Musik anderer Provenienz; Musik, die sie interessiert und beschäftigt. Musik, von der sie der Meinung ist, dass diese grundsätzlich etwas zu sagen hat, dass diese der Welt etwas Wahrhaftiges, etwas Aufklärendes geben will und über die sie dann selbst weiterspricht: in Rundfunk und Print, in Vorträgen und Gesprächsrunden.

Seltener ist sie hierbei als Kritikerin unterwegs, eher agiert sie als Berichtende, als Reporterin, als Gesprächspartner, als verbale Porträtmalerin, als reflektierende Essayistin. Außerdem und überdies: Leonie Reineke – 1989 geboren und zwar wie sie gerne betont in den Monaten vor dem Fall der deutsch-deutschen Mauer – ist, das weiß sie selbst vielleicht gar nicht, aber genau das resoniert in ihren Texten: Sie betätigt sich eben auch als Chronistin der laufenden Ereignisse und Besonderheiten neuer Musik. Und das ist eine eminent wichtige Aufgabe für heute und morgen. Dafür dürfen wir uns alle schon jetzt bei Leonie Reineke bedanken, und ich mich nun bei Ihnen. Danke.