27. April 2024 Reinhard-Schulz-Preis

Lydia Jeschke: Laudatio für Hannah Schmidt

Liebe Anke Kies, liebe Anwesende hier bei unserer kleinen, aber feinen Preisverleihung des Reinhard-Schulz-Preises 2023.

Wir gehen in die Oper oder ins Konzert, wir besuchen eine Performance, eine Klanginstallation, ein Festival für zeitgenössische Musik, wir treffen jemanden zum Gespräch über Kunst. Manchmal erfüllen sich unsere Erwartungen, manchmal nicht. Wir sind mit Vormeinungen dort, vielleicht mit einer ganz klaren Frage im Kopf – oder mit großer Offenheit. Unsere Disposition: gespannt, komplett eingestimmt oder vielleicht auch eher verhalten, mit aus irgendwelchen Gründen nur geteilter Aufmerksamkeit.

Etwas oder Einiges von all diesem wird zutreffen, auf uns selbst, auf die Zuhörerin neben uns, auf den Liebhaber der dargebrachten Kunst genauso wie auf zufällig Vorbeigekommene oder auf die Profis der Szene. Denn wir bringen ja uns selbst mit in all das, was wir anschauen, anhören, erleben, besprechen und beurteilen.

Lydia Jeschke bei der Preisverleihung - Laudatio. Foto: Kristof Lemp.
Lydia Jeschke bei der Preisverleihung – Laudatio. Foto: Kristof Lemp.

Kritik hat damit traditionell eher weniger zu tun. Der Kritiker, die Kritikerin, als Profis, sollten, ähnlich wie die aufführenden Musiker, über oder neben ihren aktuellen Befindlichkeiten stehen. Denn von ihnen sollten wir, als Leserin oder Hörer der Kritik, erfahren, was den Komponisten oder die Klangkünstlerin tatsächlich beschäftigt, wie es wirklich war im Konzert, in der Oper usw. – und wie zu beurteilen: gelungen, misslungen, modern oder traditionell, mitreißend oder nichtssagend.

Dass auch die Kritikerin nur ein Mensch ist, mit Vormeinungen, Aufmerksamkeiten, Stimmungen und Perspektiven, das wissen wir; natürlich war das niemals wirklich anders – inzwischen, seit einigen Jahrzehnten schon, darf man es auch laut sagen. Trotzdem bleibt da so ein etwas diffuser Anspruch bestehen: nach Information, Zusammenfassung, unvoreingenommener Objektivität. Und dass die Wirkung eines Artikels oder einer Sendung über Musik noch immer ein Motor oder auch ein starker Dämpfer für eine musikalische Karriere sein kann, das bestätigt doch diese These.

Hannah Schmidt sieht das offenbar anders. Oder besser: sie agiert anders. Ihre Artikel, Gespräche, Besprechungen haben immer einen, nämlich ihren Ausgangspunkt, und den stellen sie auch klar. Manchmal geht es um die persönliche Situation der Autorin, zum Beispiel, wenn sie sich zeitökonomisch gesteuert und damit unentspannt auf ein nächtliches Dauer-Konzert einlässt oder an anderer Stelle mit ihrem Interviewpartner unerwartet und zunächst irritiert in eine Hochzeitsgesellschaft gerät. Nicht selten sind es allgemeinere gesellschaftspolitische Fragen, die da verhandelt werden und die Perspektive vorgeben. Gendergerechtigkeit, Klimawandel, Migration, Rassismus, Kolonialismus.

Das alles spricht noch nicht für die Texte. Aber wenn es gut läuft – und das tut es in den Radio- und Zeitungs- und Online-Beiträgen, die wir uns anschauen und –hören durften – wenn es gut läuft, dann öffnen sie ihren Leserinnen oder Hörern ein spezielles Fenster zur Musik. Sie laden uns ein, machen den Einstieg leicht, sie rufen gewissermaßen ein sympathisches „Hallo“ und verlangen uns lesenden oder hörenden Kultur-Passanten zunächst nicht viel mehr ab, als mal eben kurz stehenzubleiben. Mag sein, dass wir dann, beim Weiterlesen- oder –hören, einen eben ganz bestimmten Blick oder Hörwinkel zur Sache bekommen; ein Fenster ist ja immer auch eine ganz bestimmte Öffnung in der Wand und der spezifische Lichteinfall verdeckt vielleicht eine Zimmerecke. Aber auch im echten Leben schauen wir ja kaum jemals anders erfolgreich in ein uns noch verschlossenes und unbekanntes Haus hinein. Fenstern ist, glaube ich, auch im Bezug auf Neue Musik eine sehr schöne Kulturtechnik.

Hannah Schmidt wurde 1991 geboren und arbeitet freiberuflich als Kritikerin und Publizistin, u.a. für DIE ZEIT, das VAN-Magazin und verschiedene Rundfunksender. Sie hat Orgel studiert, Komparatistik in Bochum und Germanistik Journalistik und Musikjournalismus in Dortmund – dort an der Technischen Universität promoviert sie derzeit auch. Der zugehörige Forschungsbereich: Feuilleton- und Debattenforschung.

Die einladende Sprachgewandtheit in ihren Texten mag mit dieser Liebe zur geschriebenen Sprache zusammenhängen – gerade studiert sie ja noch am Institut für Vergleichende Literatur der Uni Bochum auf einen zweiten Master hin. Vielleicht hängt es aber auch mit diesen verschiedenen kulturwissenschaftlichen Studien und Tätigkeiten zusammen, dass Hannah Schmidt ihre eigene Rolle im „debattierenden Feuilleton“ stets mit reflektiert und thematisiert und dass sie sie uns als Perspektive mitgibt. Ihr Blick auf die aktuelle Musik ist häufig auch ein Blick in den Spiegel, also irgendwie vermittelt. Allerdings ist es weniger ein Blick in einen Rückspiegel im Auto, in dem man vor allem sieht, wie sich die Landschaft hinter einem rasch entfernt. Es ist auch kein Schmink-Spiegel, in dem die Schreibende sich übertrieben groß selbst betrachten würde. Eher scheint es mir tatsächlich – Zufall oder nicht, wenn wir Hannah Schmidts Biografie im Kopf haben – so ein Typ Spiegel zu sein, wie man ihn für Organist:innen oben an der Orgel anbringt, damit sie das Geschehen im Altarraum auch um Ecken herum und rücklings verfolgen können, während ihre eigene Position klar definiert ist.

Eine starre, sattelfeste Position ist das damit nicht unbedingt – die Kritikerin als „Organistin“ ist zum Glück keine, die alle Choräle auswendig und fraglos in den Raum schickt. Eher sieht sie sich auch selbst dabei zu, wie sie die Registrierung ausprobiert und die richtige Tonlage sucht. Das kann auch an die Grenzen des Scheiterns geraten. Nach einer multimedial-mehrschichtig aufgeladenen Aufführung im Berliner Humboldt-Forum beschreibt sie, wie sie sich „der Schwäche des eigenen Hirns bewusst (wurde), wie lange nicht“.

Auch interessant ist übrigens – und nicht unabhängig von den oben erwähnten Diskussionsfeldern: welche Musik Hannah Schmidt zur Besprechung auswählt, welche Komponierenden sie in Porträts vorstellt. Das Spektrum ist weit – „neue Musik“ schließt für sie die komponierte abendländische Musik ebenso ein wie freiere Formen oder Musik aus anderen Kulturkreisen. Mit Sarah Glojnaric und ihrer Musik hat sie sich ausführlicher befasst, auch mit Olga Neuwirths Opernschaffen, aber ebenso mit der Composer-Performerin Elaine Mitchener, mit der iranischen Komponistin Aftab Darvishi oder dem deutsch-türkisch-armenischen Komponisten Marc Sinan.

Engagement scheint wichtig, die Porträtierten sollten etwas zu sagen haben oder wirklich etwas erreichen wollen – zunächst einmal: gehört zu werden, natürlich. Dabei hilft der Journalismus, der sich mit zeitgenössischer Musik beschäftigt. Reinhard Schulz, den ich auf seinen sehr eigenen und bestimmten Wegen durch die Konzerte und Festivals noch eindrücklich vor Augen habe, hatte dafür, für die engagierte Kunst, ein besonderes Ohr. Und bei diesem zeitgenössischen Gehörtwerden hilft heute auch, für uns besonders erfolgversprechend, Hannah Schmidt.

Über eine Aufnahme mit Werken von Ondrej Adamek sagte Hannah Schmidt in einer ihrer CD-Rezensionen für den Deutschlandfunk: Musik erschiene hier als überall in verschiedenen Formen und Spektren vorhanden, das Anliegen und die besondere Fähigkeit des Komponisten sei offenbar, alles, was wir hören, als Musik zu begreifen.

Gern möchte ich nun erfahren, was Hannah Schmidt in den nächsten Jahren als Musik begreifen, wie sie ihren persönlichen Spiegel einrichten und welche Fenster zur Neuen Musik sie für uns aufstoßen wird.

Im Name der gesamten Jury gratuliere ich herzlich zum Reinhard-Schulz-Preis 2023.


Darmstadt, 13.8.2023